Schneiderei Morgentau

Das frische Grün der Fassade war dem Hydrid einst als Erstes ins Auge gefallen, noch bevor sein Blick auf die liebevoll ausgestatteten Schaufenster hatte fallen können. Schneiderei Morgentau — das war nicht das erste Mal, dass ihn der Laden anlächelte und förmlich zum Eintreten zwang. Bisher hatte er stets den Kopf geschüttelt, an seinen leeren Geldbeutel gedacht und war mit einem Hauch Wehmut weitergezogen.
Doch heute bot sich ein Anlass, um dem Lädchen einen Besuch abzustatten. Kein freudiger Anlass, wohlbemerkt, aber nichtsdestotrotz ein Grund, um zumindest einen Blick hineinzuwerfen und dem Besitzer ein Kompliment für seinen Laden auszusprechen.
Mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf den Lippen und seinem kleinen, goldgefärbten Begleiter — eine Libelle namens Midas — auf der Schulter, betrat Ilya das Geschäft. Von Stoffen und Kleidern umgeben zu sein, weckte mehr nostalgische Gefühle, als er sich eingestehen wollte. Auch wenn der Laden seiner Eltern düsterer und rudimentärer eingerichtet war, fühlte der Hydrid sich augenblicklich gut aufgehoben. Es hatte etwas Tröstliches.
Suchend blickte er sich nach einer Person um, die so wirkte, als hätte sie hier das Sagen. Doch woran sollte er diese Person erkennen? Etwas verloren stand er im Eingangsbereich, einen abgenutzten Stoffbeutel in den Händen haltend und Kleidung tragend, die ihre besten Jahre hinter sich hatte. Die schwarze Hose rutschte ihm beinahe von den schmalen Hüften und das ebenso schwarze Hemd war eindeutig mindestens eine Kleidergröße zu weit. Einzig der mit Edelsteinen besetzte Schmuck passte überhaupt nicht ins Gesamtbild.
Ilya räusperte sich. „Entschuldigung?“, fragte er in den Raum hinein, seine Stimme auffallend leise und melodisch. „Ich würde gerne etwas kaufen, bitte.“ Immer noch unsicher, wer von den anwesenden Personen der Ladenbesitzer war, schaute er zwischen einigen jungen Frauen hin und her, die ihn ihrerseits musterten. Ilya nahm an, dass eine von ihnen vermutlich hier arbeitete und ging einige Schritte auf sie zu, woraufhin sie sich erst gegenseitig ansahen und schließlich kichernd ins zweite Stockwerk verschwanden. Verdutzt schob Ilya die Augenbrauen zusammen und sah ihnen nur schweigend hinterher.

Seine Suche nach einer Verkäuferin nahm glücklicherweise ein Ende, kurz nachdem die Mädchengruppe ins Obergeschoss aufgebrochen war. Neugierig musterte er die Dame, die ihn angesprochen hatte, wobei sein Blick für einen etwas längeren Moment an ihrem elfenbeinfarbenen Horn haften blieb. Gepaart mit ihren Ohren, schloss Ilya darauf, dass es sich bei der Frau um eines dieser Einhörner handelte, mit denen er bisher noch nicht allzu oft das Vergnügen hatte. Schließlich stammte er aus dem Land der Geister und Irrlichter.
Er erwiderte ihr warmes Lächeln, wollte allerdings im nächsten Atemzug erwähnen, dass er keine Beratung brauchen würde. Scheinbar sah die Blonde das anders, denn sie ließ es sich nicht nehmen ihm Vorschläge bezüglich möglicher Farben und Schnitte zu machen.
Von dem Enthusiasmus des Einhorns überrascht und ein wenig aus der Bahn geworfen, warf Ilya einen flüchtigen Blick an sich hinunter. So grauenvoll fand er seine Kleidung gar nicht und abgesehen davon, war er ursprünglich wegen eines anderen Anliegens in das Geschäft gekommen. Er ließ sie trotzdem ausreden. Ihre lebhafte Begeisterung war mindestens so charmant, wie der Laden selbst. Dennoch musste er sie ein wenig ausbremsen, bevor sie noch auf die Idee kam ihn einmal vollständig neu einzukleiden. Das könnte er sich beim besten Willen nicht leisten. „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich möchte keine neue Kleidung kaufen. So viel Geld habe ich leider nicht. Ich suche nach einem wetterfesten Regenmantel. Verkaufen Sie so etwas?“ Er hatte fast schon ein schlechtes Gewissen, weil er ihre Stilberatung somit kaum berücksichtigte.
Erneut wanderte sein Blick zu seinem schwarzen Hemd, das er an einer Seite in seine Hose gesteckt hatte, damit es nicht allzu offensichtlich viel zu weit schien. Doch offenbar fiel es trotzdem auf. „Vielleicht ein neues Hemd“, fügte Ilya schließlich doch hinzu. Ein leicht verlegenes Lächeln schlich sich für den Bruchteil eines Moments auf seine Lippen.

Er hatte den Laden betreten, um einen neuen Regenmantel zu kaufen, nachdem sein alter Mantel nach jahrelangem Gebrauch förmlich auseinandergefallen war. Und nun hatte man ihm nicht nur eine komplett neue Garderobe, sondern auch noch einen Job angeboten. Das war ziemlich viel, was der Hybrid sich erst einmal durch den Kopf gehen lassen musste. Schließlich war er nicht direkt auf Arbeitssuche, obwohl es nicht schaden würde, etwas mehr Geld am Ende des Monats zu haben, als momentan der Fall war.
Das Grinsen der Dame war allerdings ansteckend, sodass auch Ilya sich ein Lächeln nicht länger verkneifen konnte. Nachdenklich fuhr er sich mit dem Zeigefinger über die Spitze eines seiner Hörner — eine Angewohnheit, so wie einige Menschen sich dabei ans Kinn tippten. „Du würdest mich einstellen, ohne dich vorher von meinen Fähigkeiten überzeugen zu wollen?“, fragte er neugierig, fast schon ein bisschen neckisch. Es könnte ja auch sein, dass er zwei linke Hände besaß und Chiffon nicht von Satin unterscheiden konnte. Dass seine Eltern allerdings einen Stoffladen und mittlerweile sogar eine eigene Schneiderei besaßen, konnte das Einhorn nicht wissen.
Er wollte sie aber nicht auf die Folter spannen. Und wie konnte er so ein Angebot, von so einem freundlichen Mädchen, sofort ablehnen? Seinen Beutel nahm er in die linke Hand und hielt der Blonden die andere, zierliche Hand hin. „Ich heiße übrigens Ilya. Ich bin schon oft an deinem Laden vorbeigekommen, bin aber nie hereingegangen. Hätte ich gewusst, dass die Besitzerin so sympathisch ist, hätte ich schon früher reingeschaut.“ Er lächelte etwas breiter, kniff dabei sogar leicht die Augen zusammen. Er sagte das keinesfalls, um der Besitzerin Honig ums Maul zu schmieren. Dazu gab es schließlich keinen Anlass.

Schmunzelnd stellte er fest, dass er sie mit seinem Kompliment offenbar in Verlegenheit gebracht hatte. Das war wirklich niedlich. Wäre er ein Schelm, hätte Ilya es wohl noch weitergetrieben und geschaut, wie verlegen er sie machen könnte. Aber so war er nicht. Zudem sie ihm erst einen Job und nun auch noch Tee angeboten hatte. Da konnte er Livia unmöglich wegen ihrer roten Wangen aufziehen. „Freut mich, Livia“, erwiderte er stattdessen. Ob das kurz für Olivia war? Er fragte nicht nach, da es ihm unhöflich erschien. „Ich werde mich schon in die Arbeit einfinden, mach dir keine Sorgen. Und du wirst mich doch sicher ein wenig an die Hand nehmen, oder?“, fragte er in einem nicht ganz ernsten Tonfall. Die Frage konnte er sich nicht verkneifen.
Ilya nahm seinen Beutel wieder in beide Hände und ließ den Blick flüchtig durch den Laden schweifen, als das Einhorn ihm Tee anbot. „Wenn du ein wenig Zeit entbehren kannst, gerne. Ich habe keine Vorlieben“, sagte er daraufhin. Obwohl er es sich nicht anmerken ließ, war Ilya etwas verdutzt darüber, dass er soeben Beschäftigung in einer Schneiderei gefunden hatte. Wollte er das wirklich? Schließlich war er Künstler, kein Schneider oder Verkäufer. Andererseits brauchte er das Geld und sowohl dieses Lädchen, als auch die Besitzerin, schienen nett genug zu sein.
Sein kleiner Begleiter hatte sich derweil etwas entfernt und drehte über den Köpfen der Kunden seine Runden durch das Geschäft. Ein wenig nervös schielte Ilya in Richtung der Libelle. Hoffentlich kam niemand auf die Idee das goldene Tierchen als Ungeziefer zu betiteln und zu zerquetschen. „Kann ich dir bei irgendetwas helfen?“, wandte er sich dann schließlich wieder an Livia. Sie hatte gerade sicher alle Hände voll zu tun, mit der Kundschaft und dem Geschäft, da konnte er seine Hilfe zumindest anbieten. Und sei es nur die Aufgabe das Wasser für den Tee aufzukochen.

Er musste unbedingt irgendwann fragen, ob er sie zeichnen dürfte. Es juckte ihm in den Fingern, den Zeichenblock herauszuholen, um hier und jetzt zu skizzieren, mit den selbstgemachten Kleidern im Hintergrund. Verlegenheit war eine Emotion, die er nicht oft einfangen durfte. Die meisten seiner Kunden wollten lieber lachend, selbstbewusst oder stoisch abgebildet werden und von diesen Vorgaben durfte Ilya nicht abweichen.
Zum Glück schien sie nicht so nervös, dass es ihr die Sprache verschlug. Denn das wiederum hätte auch Ilya verlegen gemacht. „Ja, mir sind die handgemachten Stücke schon im Schaufenster aufgefallen. Man sieht ihnen an, wie viel Arbeit und Liebe in jedes Teil fließen“, merkte er zustimmend an und schaute dabei beiläufig durch den Laden. Oft bekam man in der Stadt nur noch Klamotten von der Stange, die zwar günstig, aber qualitativ minderwertig waren. Ilya hatte oft keine andere Wahl, als billige Kleidung zu kaufen, die nach ein paar Monaten auseinander fiel. Vielleicht würde sich dieser Umstand nun ändern?
Daraufhin folgte er ihr in ein Hinterzimmer; etwas zögerlich, obwohl Livia ihn dazu aufgefordert hatte ihr zu folgen. Bevor er jedoch im Nebenraum verschwand, gab er ein kurzes, hohes Pfeifen von sich, um Midas zu sich zu rufen. Er wollte die Libelle nicht aus den Augen verlieren. „Meine Eltern haben einen Stoffladen in Nebula. Er ist etwas kleiner als deiner… hat keine zweite Etage. Aber ich habe ein bisschen was über Stoffe und Schneidern gelernt, als ich dort gearbeitet habe. Nähen kann ich auch ein wenig“, erzählte er, während Livia das Wasser aufsetzte. Seiner Stimme hörte man an, dass er nicht darauf aus war, zu prahlen oder sich in ein möglichst gutes Licht zu rücken. Er klang eher bescheiden, fast schon unsicher, ob er all das überhaupt erwähnen sollte. Mit einer Hand strich er über einen fließenden, dunklen Stoff, der auf dem Tisch lag und betrachtete all die unterschiedlichen Textilien. Es fühlte sich wirklich an, wie daheim.

Dass sich der eigentliche Verkaufsraum nur auf das erste Stockwerk beschränkte, war ihm nicht bewusst gewesen. Aber das war ohnehin nichts, was er unbedingt kommentieren musste. Er dachte sich lediglich, dass es sicher praktisch sein musste eine Wohnung direkt über dem eigenen Laden zu haben. Ihre Aussage, er wäre genau die richtige Person für den Job, quittierte Ilya mit einem Schmunzeln und einem leichten Kopfschütteln. „Ich weiß nicht. Aber ich versuche deine Erwartungen zu erfüllen so gut ich kann“, erwiderte er und ließ den Stoff wieder auf den Tisch sinken. Hoffentlich hatte er jetzt nicht dafür gesorgt, dass Livia ihm mehr zutraute, als seine Fähigkeiten hergaben. Vielleicht sollte er doch noch einmal deutlich machen, dass er kein ausgebildeter Schneider war…
Die Chance dazu bekam er jedoch vorerst nicht. „Klar. Geh nur, ich hab ein Auge auf das Wasser“, versicherte er der Blonden nickend. Ilya sah ihr für einen Moment hinterher, bevor er seinen Beutel auf dem Stoffberg ablegte und durch den Raum zum hoffentlich bald brodelnden Wasser ging. Die neue Kundschaft hatte er nicht gehört, aber seine Ohren waren bei Weitem nicht so fein, wie die eines Pferdes.
Da es wohl noch etwas dauern würde, bis das Wasser kochte, schlenderte er wieder zum Stofftisch, um seinen Block und einen angespitzten Bleistift rauszuholen. Er lehnte sich mit dem Gesäß an die Tischkante und fing an zu kritzeln. Aus gegebenem Anlass und weil ihm momentan die Inspiration für anderes fehlte, skizzierte er erst Livias kleine Pferdeohren und anschließend ein Kleidungsstück, das ihm im Schaufenster aufgefallen war.

Wie lange Livia wohl brauchen würde? Bisher war sie ja erst seit kaum einer Minute fort, aber Ilya machte sich jetzt schon Sorgen darüber, was er mit dem kochenden Wasser anstellen sollte, wenn sie nicht bald zurückkehrte. Er konnte den kleinen Aufenthaltsraum aber auch nicht einfach verlassen, während das Wasser im Kessel köchelte. Schließlich hatte er versprochen ein Auge darauf zu werfen, während die Ladenbesitzerin wichtigeren Aufgaben nachging.
Seufzend legte er seinen Zeichenblock in seinem Schoß ab und schielte in Richtung der Libelle, die es sich neben dem heißen Wasser gemütlich gemacht hatte. Weit genug vom Wasserdampf entfernt, um sich nicht die goldenen Flügel am Dampf zu verbrennen. „Glaubst du wir sind hier richtig?“, fragte er die Libelle mit gedämpfter, leiser Stimme, wohlwissend, dass das Tier weder sprechen konnte, noch der menschlichen Sprache mächtig war. Zumindest ging er davon aus. Das Insekt regte sich nicht; es verweilte vollkommen bewegungslos neben dem Kessel. Abermals seufzend schüttelte Ilya den Kopf und legte seinen Block zurück in seinen Beutel. Wenn er wenigstens wüsste, wo der Tee sich befand, könnte er schon einmal anfangen die Tassen vorzubereiten. Aber er hatte keine Ahnung und traute sich auch nicht die Schubladen zu durchwühlen.
Er entschloss sich dazu zu warten bis Livia zurückkam. Zumindest für den Moment. Sollte sie immer noch nicht zurück sein, wenn das Wasser bereits kochte, würde er vermutlich rausgehen und nach ihr sehen. Ein Blick in Richtung des Wassers verriet ihm, dass es wohl noch ein, zwei Minuten dauern würde. Ilya nahm es ihr aber keinesfalls übel, dass sie ihn hier warten ließ. Schließlich war es ihr Job sich um Kunden zu kümmern und er hatte eingewilligt hier zu warten.